14.04.2020 08:00

Mit Zen & Mettameditation durch die Coronakrise

Mögen sich alle sicher fühlen.
Mögen alle gesund bleiben oder gesund werden.
Mögen alle in ihrer Mitte ruhen und sein mit dem, was ist
.

In der Woche vor dem Lockdown gab ich den letzten Zen-Einführungskurs im Lassalle-Haus. Danach wurden alle weiteren Kurse abgesagt. Als ich in der Schlussrunde fragte: „Gibt es jetzt am Ende des Kurses einen Unterschied zu vor dem Kurs?“, meldeten sich alle Teilnehmenden nacheinander zu Wort und der Tenor war ziemlich einhellig: Die stressvolle Beschäftigung mit dem Coronavirus hat merklich abgenommen! Ein Schulleiter sagte: Am Freitagabend sei er verspätet aus dem Corona-Chaos in unseren Kurs gekommen. Er habe nicht gedacht, dass er in so kurzer Zeit vollkommen runterfahren könne und seine Sorgen zeitweise total vergessen könne. In nur 1.5 Tagen Zazen fühle er sich entspannt und in seiner Mitte angekommen.
Die Einzelgespräche spiegelten für mich das wieder, was an Thematiken zur Zeit auch in den Medien wahrnehmbar ist: Angst, Panik, Stress, Ohnmacht, aber auch Selbstmitgefühl, Solidarität, Nachbarschaftshilfe, positive Sicht, Kreativität und Humor. Was haben wir davon, wenn wir aus unserer Mitte – unserem inneren Dirigenten – mit diesen Zuständen in Kontakt sein können?

Angst hat auch gute Seiten

Um welche Ängste geht es? Die Krankheits- und Todesbedrohung bei einem selbst, etwa weil man zu einer Risikogruppe gehört, oder Angst um Nahestehende, Freunde, Kollegen, Verwandte; Existenzielle Ängste vor Arbeitsverlust, Verlust der existenzsichernden Grundlagen für die eigene Familie; die Angst älterer oder alleinstehender Menschen vor zunehmender Vereinsamung durch die verordnete soziale Isolation; die Angst vor wechselseitiger Ansteckung in Familien, in Asylzentren, Kinderheimen, Flüchtlingslagern, Favelas und überall dort auf unserer Welt, wo Menschen auf engstem Raum zusammenleben; die Angst vor häuslicher Gewalt, Partnerschafts- und Familienkonflikten aufgrund der ungewohnten räumlichen Nähe; schliesslich die Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems, des Wirtschaftssystems, des politischen Systems.

Was ist das Geschenk dieser angstvollen, panischen Seite, die Katastrophenphantasien entwickelt? Sie sagt uns Dinge wie: „Pass auf!“ „Tue alles in deiner Macht Stehende, um gut durch die Krise hindurch zu kommen und um zu überleben!“ Die Angst rüttelt auf, macht hellwach und motiviert uns, vorsichtig zu sein und uns abzusichern! Das ist das „Positive“ am „Negativen“. Diese Botschaft können wir akzeptierend und wertschätzend zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln.

Zen und Mettameditation kann uns in unsere Mitte zurückbringen, uns helfen, uns sowohl von übertriebenen Ängsten und Katastrophenphantasien zu disidentifizieren als auch ein adäquateres Verständnis der gegenwärtigen Lage zu gewinnen.

Jeder Tag – ein guter Tag!

In einem berühmten Zen Koan stellt Zen-Meister Unmon Zenpraktizierenden die Frage: „Ich frage euch nicht über all die Tage vor diesem jetzigen Tag? Sagt mir etwas über all die Tage nach diesem jetzigen Tag!Ohne eine Antwort abzuwarten antwortete er sogleich: „Jeder Tag – ein guter Tag!„
Dieses berühmte Koan lässt sich sehr gut auf die jetzige Situation anwenden: „Ich frage euch nicht über die Tage vor dem Ausbruch der Coronakrise. Sagt mir etwas über all die Tage danach! Jeder Tag – ein guter Tag!“ Wie können wir das in unserem Alltag verwirklichen? Indem wir immer wieder von neuem aus allen Bedrängnissen und Ängsten mit einer liebevollen Entschiedenheit zurückkehren zu unserer Meditationspraxis, sei das der Atem, die Präsenz im Hier und Jetzt, das Koan «MU» oder eine Mettameditation. So finden wir in uns eine Überfülle, wir sind offen, bewusst, besonnen, berührbar, mit uns und anderen mitfühlend, mitmenschlich und auf das Wohl von uns, anderen und des jeweils grösseren Ganzen bedacht.

Fürsorge, Hilfe, Kooperation

Überall auf der Welt helfen sich Menschen gegenseitig, um Krisen aller Art zu überstehen. Das ist und war auch immer schon in Krisenzeiten zu beobachten. Das können wir jetzt an den zahlreichen Initiativen erkennen, beispielsweise wenn Kinder und Jugendliche älteren Menschen anbieten, Einkäufe zu tätigen und vor ihre Türen zu stellen oder wenn Kunden ihren Detailhändlern und Selbständigerwerbenden, etwa dem Bäcker in der Nachbarschaft, der Yogalehrerin, etc. weiterhin treu sind, damit diese ihre Existenzgrundlage nicht verlieren.
Kooperation und Fürsorge sind ein Prinzip der Natur. Soziale Tiere kooperieren und kennen den Grundsatz: „Wie du mir, so ich dir!“ Das gilt auch für das wechselseitige einander helfen! „Hilfst du mir, helf ich dir!“ In uns Menschen entstehen Kooperation und Fürsorge aus der Offenheit und Berührbarkeit, der Fähigkeit, sich in die Schuhe anderer zu stellen und mitfühlend zu sein, d. h. sich die Anliegen anderer Menschen zu seinen eigenen Anliegen zu machen und sich darum zu kümmern. Mitgefühl ist eine wunderbare Sache, die einem Bedeutung verleiht, das eigene Glücks- und Sinnempfinden vermehrt und das eigene Leben und das anderer bereichert.

Mitgefühl lässt sich trainieren – eine Anleitung


Leider ist mitfühlendes und kooperatives Verhalten weit weniger stark gesellschaftlich verankert und verbreitet als selbstschützendes und konkurrenzierendes. Doch Mitgefühl und wechselseitiges Helfen lässt sich durch Mitgefühlsmeditation (Metta- bzw. Karunameditation) trainieren, wie ein Muskel. Dabei geben wir uns selbst, einer nahestehenden Person, jemandem, mit dem wir nicht so gut klarkommen und schliesslich der ganzen Welt Mitgefühl. Nimm dir für die folgende Meditation mindestens eine halbe Stunde Zeit.

  1. Wenn du dich zur Meditation hinsetzt, lenke deine Achtsamkeit für ein paar Atemzüge auf deinen Atem.

  2. Entwickle Mitgefühl für dich selbst: schau hin, wo gerade deine Schwierigkeiten liegen, sei damit für einen Augenblick bewusst in Kontakt und spüre nach, wie sich das in deinem Körper anfühlt und drücke deinen Stress, Schmerz, dein Ungemach in deinen eigenen Worten aus, z. B. „Autsch!“ „Das tut weh!“ „Das ist Scheisse!“ (oder wie auch immer – in deinen Worten). Dann mache dir klar, dass du gerade nicht der einzige Mensch bist auf der Welt, der leidet. Ganz viele leiden vielleicht am selben wie du und jeder Mensch ist leidensfähig. Leiden gehört zur conditio humana! Dieser Gedanke holt dich aus der Vereinsamung und Isolation deines eigenen Leidens heraus! Das verbindet uns alle als Menschen. Dann sage dir Dinge, die dich – oder einen anderen Menschen in deiner Lage – trösten könnten, wie z. B. „Möge ich mich sicher fühlen.“ „Möge ich mutig sein!“ „Möge ich in Gelassenheit in meiner Mitte ruhen und akzeptieren, was gerade ist.“ Suche deine etwa drei stimmigen Sätze, die du für ein paar Minuten endlos wiederholst. Vielleicht fallen dir in einem letzten Schritt auch Handlungen ein, die dir konkret helfen könnten. Formuliere ev. eine Intention.

  3. Richte als nächstes deine Aufmerksamkeit auf einen dir nahestehenden Menschen. Stell ihn dir vor. Wenn wir unsere eigenen Schwierigkeiten erkennen, wissen wir auch, dass uns nahestehende Menschen einen wunden Punkt besitzen und was ihnen vielleicht jetzt gerade Schwierigkeiten bereitet. Schenke diesem dir nahestehenden Menschen die Wärme und Liebe deines Mitgefühls, die Hilfsbereitschaft, die Umarmung, die deine Zuneigung manifestiert. Schenke auch ihm oder ihr deine mitfühlenden, tröstenden Sätze.

  4. Denke an einen unbekannteren Menschen, oder einen Menschen, der dir gleichgültig ist. Erkenne oder erahne, dass auch dieser Mensch einen wunden Punkt hat, verletzlich ist oder dass er oder sie jetzt Schwierigkeiten hat, mit ihrer Situation klarzukommen. Sei mitfühlend, verständnisvoll. Richte innerlich deine mitfühlenden, tröstenden Worte an diesen Menschen. Umarme auch diesen unbekannten Menschen und zeige ihm oder ihr, dass du für ihn oder sie da bist.

  5. Und wir denken an einen Menschen, mit dem wir Schwierigkeiten haben. Schwierigkeiten können auch nur ganz minimale Ablehnungen sein. Und erkenne, dass auch diese Person einen wunden Punkt hat und fühle dich dadurch mit ihm oder ihr verbunden und schenke diesem Menschen dein Mitgefühl.

  6. Richte deine Achtsamkeit wieder auf dich selbst und spüre die Stärke und Unterstützung, die dein Mitgefühl für dich selbst und alle Lebewesen dir gibt. Du kannst dich füllen und umhüllen mit diesem Gefühl. Wir verstehen uns, akzeptieren uns liebevoll und wollen weiter wachsen. Wir spüren deutlich, je mehr Mitgefühl wir anderen verschenken, desto mitfühlender ist unser Herz. Mögen alle Menschen Mitgefühl für einander haben.

Peter Widmer

Dieser Beitrag ist eine etwas gekürzte Fassung - den vollständigen Beitrag lesen Sie auf Peter Widmers Website.

Zurück