
Etty Hillesum
Ein furchtloses Leben

Es ist ein geradezu idyllisches Bild: Die erste Frühlingssonne wärmt das Lassalle-Haus, und überall im ergrünten Park sitzen Menschen verstreut, auf einer Bank, unterm Baum, an die Wand gelehnt. Jede:r hat offenbar einen eigenen Lieblingsplatz gefunden und blinzelt in den blauen Himmel. Geneva Moser hat die Teilnehmenden der Etty-Hillesum-Tagung noch einmal in eine persönliche Schreibzeit geschickt.
Auf ein Referat mit Impulsen folgt die kreative Verschriftlichung, Geneva Moser führt ein in Methoden des assoziativen Schreibens, leitet an zur Écriture automatique und animiert zu Elfchen. Aber das ist nicht die einzige Besonderheit an diesen Tagen, die den faszinierenden Tagebüchern und Briefen einer besonderen Frau gewidmet sind.
Etty Hillesum war keine 30 Jahre alt, als sie in Auschwitz ermordet wurde. Ihre Tagebücher reichen bis zu ihrem Abtransport, sie sind beeindruckende literarische Zeugnisse einer leidenschaftlichen Gottsuche und Menschenliebe: angesichts himmelschreiender Unmenschlichkeit. Ihre Briefe setzen später dieses Zeugnis eines furchtlosen, wach beobachtenden Lebens fort: „Die Güterwaggons waren ganz geschlossen, hier und da hatte man Bretter herausgenommen, und aus den Öffnungen ragten Hände, die winkten, genau wie bei Ertrinkenden“, schreibt sie am 8. Juni 1943: „Der Himmel ist voller Vögel, die lila Lupinen stehen da so majestätisch und friedlich, auf der Kiste haben sich zwei alte Frauen für einen Schwatz niedergelassen, die Sonne scheint mir aufs Gesicht, und direkt vor unseren Augen geschieht ein Massenmord, es ist alles so unbegreiflich.“
Und mehr als ein Jahr vorher schon notiert sie: „Es ist mitunter kaum zu verdauen und zu begreifen, Gott, was sich deine Ebenbilder auf der Erde in diesen entfesselten Zeiten gegenseitig alles antun.“
„Ich finde das Leben so schön, trotz allem“, war die Tagung überschrieben, und dieses Zitat spannt einen weiten Rahmen, in dem ganz unterschiedliche, manchmal sogar widersprüchliche Facetten, Bilder und Perspektiven ihren Platz finden konnten.
Und ihren Klang. Die Tagung beginnt mit einer musikalischen Lesung von Hillesum-Texten – und sie setzt sich fort mit einem öffentlichen Vortrag des Selbstgeschriebenen, von Resonanzen und Echos.
Es ist nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass gerade etwas so Intimes wie Tagebuch-Einträge bei Etty Hillesum ins Performative drängen, laut werden wollen, ausgesprochen und gehört. Etty Hillesum, die junge Frau, Tochter einer Russin und eines Niederländers, Jüdin, Juristin, Menschenfreundin, träumte davon, eine Schriftstellerin zu werden und war es doch längst. In ihren Tagebüchern sprach sie, intellektuell ernsthaft und ironisch beobachtend, zu sich selbst und mit dem, was sie „der Einfachheit halber“ Gott nannte. Und so wachsen ihre Gedanken immer wieder hinein in Gebete.
Die Kuratorin Hildegard Aepli lässt das „Sonntagmorgengebet“ im Plenum laut lesen. „Es sind beängstigende Zeiten, mein Gott…“, so beginnt es, uns so reiht sich Satz an Satz: „Ich werde dir eines versprechen, Gott, aber nur eine Kleinigkeit.“ Und Stimme reiht sich an Stimme wie eine Girlande: „Ich werde meine Sorgen um die Zukunft nicht wie beschwerende Gewichte an die Gegenwart hängen, aber das erfordert ein gewisses Mass an Übung.“ Der Wunsch, diese Texte laut zu lesen, sagt Hildegard Aepli, sei auch in den kleineren Workshop-Gruppen stark. Vielleicht auch deshalb, weil diese in Gedankenbildern schillernde Intensität sonst kaum begreiflich ist.
Als Aepli nach einer Tagung zur Spiritualität der Schriftstellerin Madeleine Delbrêl vorschlug, sich im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn einmal intensiver mit Etty Hillesum zu befassen, rannte sie keineswegs offene Türen ein. Ob der Name Hillesum überhaupt bekannt genug sei für eine solche Unternehmung?
Der Jesuit und Hillesum-Experte Beat Altenburg rätselt, warum die wissenschaftliche und spirituelle Rezeption ausgerechnet in Deutschland weit weniger stark ist als in anderen Ländern: Frankreich, England, Italien, Spanien – selbst in Südamerika gibt es Menschen, die sich leidenschaftlich mit Etty Hillesum befassen und sie einem grösseren Publikum bekannt machen. Der Theologe Pierre Bühler erinnert sich gut, als zu Hillesums 100. Geburtstag 2014 offensichtlich wurde, wie sehr eine vollständige und sorgfältige Übersetzung ins Deutsche fehlte. Es brauchte dann noch einmal neun Jahre, begonnen bei der Mittelbeschaffung bis hin zum Lektorat und der mühsamen Arbeit einer Verschlagwortung, die bei Etty Hillesum eher ein Ideencluster wurde. Aber seit seit zwei Jahren liegt die von Pierre Bühler herausgegebene deutsche Gesamtausgabe der Tagebücher und Briefe vor (Etty Hillesum: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden, C.H.Beck). Ein Buch, das zum Leben erweckt werden will.
Oder wie es Hildegard Aepli formuliert: Eben kein „Buch mit sieben Siegeln“. Sondern eines, das offen daliegt zum Mitlesen.
Und daran hat Christina Siever ganz wesentlichen Anteil. Die preisgekrönte Übersetzerin berichtet im Lassalle-Haus von den besonderen Herausforderungen mit dem „Etty-taal“, dieser bisweilen ganz besonderen Etty-Sprache, ihren poetisch kraftvollen Sprachbildern, aber auch der Verantwortung, die im historischen, persönlichen, soziologischen Kontext passenden Entsprechungen zu finden. Das an Verkleinerungen reiche Niederländisch macht die Sache nicht leichter. Gerade wenn es um das ohnehin schwer Sagbare und noch schwerer Begreifliche geht: Was ist den semantischen Mustern, was einer bewussten Sprachgestaltung geschuldet? Wie lässt sich Ettys Sprachmelodie zwischen Lebensliebe und Barbarei, wie lassen sich die vielen überraschenden Wendungen, Haken und Pirouetten nachbilden? Und wie bitteschön übersetzt man adäquat „Atömchen“?
„Ettys Sprache ist eine Sprache, die immer Zwischenräume öffnet“, sagt Geneva Moser, und in ihrer präzisen Beobachtung sei sie gerade heute hoch aktuell: „Schreiben als Weltgestaltungswille“. Dieser Wille und dieser Anspruch klingen beinahe als Leitmotiv durch: „Und wenn wir diese Zeit unversehrt überleben, an Körper und Seele, aber vor allem, was die Seele betrifft, ohne Verbitterung, ohne Hass dann haben wir nach dem Krieg auch das Recht, ein Wörtchen mitzureden“, schreibt sie Anfang Juli 1943: „Vielleicht bin ich tatsächlich eine ehrgeizige Frau: Ich würde ein ganz kleines Wörtchen mitreden wollen.“
Sie wolle weder Chronistin von Gräueltaten noch eine der Sensationen sein, ihr Ehrgeiz ist ein anderer: „Später, wenn ich alles überlebt habe, werde ich Geschichten über diese Zeit schreiben, die sich wie dünne Pinselstriche vor einem grossen wortlosen Hintergrund von Gott, Leben, Tod, Leiden und Ewigkeit abheben.“
Es liegt nicht zuletzt auch an Pierre Bühlers feinem Humor und seinem immer vergnügten Lächeln, dass Etty Hillesums Leichtigkeit im Lassalle-Haus so spürbar wird. Nicht nur was sie sagt, sondern gerade auch wie sie es sagt, ist Bühler wichtig und wertvoll. Ich höre ihm zu und staune und denke bei mir: Der Wissenschaftler hat sich leidenschaftlich verliebt in diese Sprache gewordenen Gedanken, und er hat sich nie sattgeliebt an ihnen. Er zeigt sie, teilt sie und beschützt sie gleichzeitig wie wertvolle Schätze und Schmuckstücke, die in der Frühlingssonne funkeln.
Denn bei Etty Hillesum sind das nie „Wahrheiten“, schon gar keine absoluten, sondern immer nur Fundstücke, sprachlich eingefangene Momentaufnahmen, und es ist gerade dieses Spielerische selbst im Allerernstesten, das Vorläufige, Widersprüchliche, Selbstironische, das diesen Gedanken ihre faszinierende Einzigartigkeit verleiht.
Oder um es mit Ettys Selbst-Diagnose zu beschreiben: „Es wäre tatsächlich besser, eine richtige Strassendirne oder eine echte Heilige zu sein. Dann hast du Ruhe und weisst, woran du bist mit dir. Die Ambivalenz bei mir ist schon ziemlich schlimm.“
Diese selbst empfundene Spannung der Uneindeutigkeit ist in Wahrheit eine seltene Stärke, Gleichzeitigkeiten auszuhalten. Solche Ambiguitäten spiegeln sich besonders deutlich im Verhältnis zwischen Aussen und Innen: „Die Innenwelt ist genauso real wie die Aussenwelt. (…) Sie hat auch ihre Landschaften, ihre Konturen, ihre Möglichkeiten, ihre unbegrenzten Gebiete. Und man selbst ist das kleine Zentrum, in dem die Innen- und Aussenwelt aufeinandertreffen.“
Diese Innenwelt ist kein Schutz- und Rückzugsort der „Innerlichkeit“. Im Gegenteil. Immer wieder gilt es, sich gerade in dieser Welt mit besonderer Umsicht zu bewegen. „Es gibt Menschen, das ist wirklich wahr, die noch im letzten Moment Staubsauger in Sicherheit bringen und Silbergabeln und Silberlöffel statt dich, mein Gott.“ Denn eines werde ihr in Bezug auf Gott immer klarer: „dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen“.
Und spätestens hier ist Etty Hillesum, die so selbstverständlich anderen Menschen hilft und ihnen Hoffnung gibt, viel mehr als nur wache Chronistin: „Die Menschen sind für mich manchmal wie Häuser mit offenstehenden Türen. Ich gehe hinein und streife durch die Gänge und Räume (…). Und ich verspreche dir, ich verspreche dir, ich werde in so vielen Häusern wie möglich eine Unterkunft und eine Bleibe für dich suchen, mein Gott.“
Etty Hillesum: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe.
Herausgegeben von von Pierre Bühler. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth. C.H. Beck, 2023, 987 Seiten