30.01.2013 13:47

Sterbebegleitung

Zum Buch „Über das Sterben“ von Gian Domenico Borasio

Zen-Meditation

Wie es als Ärztin begann: erstmalige Konfrontation mit dem Sterben
Als Medizinstudentin und junge Assistenzärztin habe ich vor Jahren viel über die Entwicklung des menschlichen Lebens gelesen und gelernt. Ich war fasziniert über das Wissen darüber. Als ich das erste Mal als Ärztin mit dem Tod konfrontiert wurde, habe ich Publikationen zum Thema Tod. Kein wissenschaftlicher Artikel und kein Buch haben mir geholfen, das eigene Betroffensein existentiell zu verarbeiten. Der Tod eines Patienten kam als Versagen der ärztlichen Kunst daher.

Thanatologie, die Lehre vom Tod, von Elisabeth Kübler-Ross
Dann veröffentlichte Elisabeth Kübler-Ross ihre Untersuchungen. Sie war eine Schweizer Ärztin, die in den USA arbeitete und Interviews mit sterbenden Patienten systematisch analysiert hatte. Sie beschrieb mehrere Phasen im Sterbeprozess des Menschen:

  • Schock Phase: Das Bewusstwerden des unwiderruflich bevorstehenden Lebensendes kann bei unvorbereiteten Patienten einen existentiellen Schock verursachen.
  • Revolte Phase: das Nicht-Wahrhaben-Wollen und das Verdrängen des Sterben.
  • depressive Phasen: das Resignieren mit depressiven Verstimmungen.
  • Versöhnung mit dem Schicksal: im günstig Fall zunehmende Versöhnung mit der eigenen Biografie, mit dem Nicht-Gelebten, dem Nicht-Vollendeten (besonders in zwischenmenschlichen Beziehungen)
  • Phase der Akzeptanz: allmähliches gelassenes Annehmen des Schicksals, des Todes.

Neuere Erkenntnisse zur Trauerarbeit
Wut, Revolte und Trauer können kontraproduktiv sein und eine negative Spirale unterhalten. Lächeln und das Zurückhalten negativer Gefühle sind oft wirksamer, Verlusterfahrungen zu bewältigen. Wichtige Stützen sind gute zwischenmenschliche Beziehungen und die Erfahrung, nicht allein gelassen zu sein.

Krankheit und Tod als Tabu-Themen der heutigen Zeit
In der Medizin und in unserer westlichen Gesellschaft wird das Thema Tod heutzutage weitgehend tabuisiert. So habe auch ich im aktiven Berufsleben den Tod oft auch nicht wahrhaben wollen und verdrängt. Ich wollte mich auf das Leben ausrichten, das Leben erhalten und fördern.

Suche nach Sinn und Orientierung
Auf der Suche nach dem Lebenssinn und Orientierung für das ethische Handeln habe ich nach dem Woher und Wohin des Menschen gefragt und mich auch jahrelang mit Theologie und Spiritualität befasst. Grossartige Visionen, die das Verhältnis von (natur-)wissenschaftlicher Forschung und Spiritualität klären, existieren. Das Wesen des Menschen lässt sich aber nur verstehen, wenn auch die Kontingenz des Menschen, der eigene Tod, und das eigene Ende in den Blick genommen werden. Aus dieser Perspektive ändert sich die Werteskale grundlegend. Das Wesentliche im Leben wird bewusst.

„Über das Sterben, Was wir wissen, Was wir tun können, Wie wir uns darauf einstellen“ von Gian Domenico Borasio
Das Buch geht den Fragen nach dem Sterben differenziert und gut lesbar nach. Gian Domenico Borasio ist Arzt und hat eine Professur für Palliative Care am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV in Lausanne inne. Er stellt fest, dass heutzutage zu unserem eigenen Schaden die Angst vor der Auslöschung des eigenen Ichs und die Angst vor einem qualvollen Sterbeverlauf eine aufgeklärte adäquate Kommunikation über das Sterben blockiert. Die Ängste sind Anlass zu irrationalem Verhalten auch von gebildeten Menschen. Wer Angst hat, nimmt die Realität verzerrt wahr, meidet Informationen und verhindert den Dialog.

Wunsch vieler Menschen nach einem sanften Tod
Eine achtsame und gute Information über das Sterben und die heutigen Möglichkeiten der medizinischen, psychosozialen und spirituellen Begleitung können die Angst vor dem Sterben weitgehend minimieren.

Palliative Care: WHO Definition der Palliativbetreuung
Wenn eine Heilung im Sinne einer Restitutio ad integrum nicht mehr möglich ist, ist eine palliative Betreuung angezeigt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert die Palliativbetreuung als „Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden durch frühzeitige Erkennung, hochqualifizierte Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.“

Ärztliche Sterbebegleitung im Sinne einer ganzheitlichen Medizin
Gian Domenico Borasio betont in seinem Buch „Über das Sterben“, dass die Menschen Liebe und Zuwendung brauchen. Sterbende wünschen sich insbesondere Schmerzfreiheit und Geborgenheit. Sie wünschen sich ein soziales System, in dem sie als Individuum mit je eigener Identität und Würde akzeptiert sind. Sie möchten sich als je eigene Person in transzendentalem Sinnzusammenhang sehen. Die Kommunikation mit aktivem, empathischem Zuhören ist eine zentrale ärztliche Kompetenz.

Gute medizinische, psychosoziale und spirituelle (Für-)Sorge entscheidend
Grundlegend ist eine bestmögliche Therapie der häufigsten Symptome: der Schmerzen, der Atemnot und der neuropsychiatrischen Symptome. Wenn die Bedürfnisse der Physis des Menschen möglichst gestillt sind, kann erst optimal auf die psychosoziale Betreuung des Sterbenden, der Familie und von weiteren Beteiligten eingegangen werden. Angesichts des unausweichlichen Todes wandelt sich die Werteskala hin zu Altruismus und Spiritualität. Die spirituelle Begleitung Sterbender stellt daher meist eine wichtige Ressource für die Lebensqualität dar. Einerseits möchte der Sterbende die Beziehungen zu seinen liebsten Menschen ordnen. Andererseits kann der Sterbende in der Selbsttranszendenz dem Tod gelassener entgegensehen. Trotz zunehmender Desintegration seiner körperlichen und kognitiven Funktionen kann er Sinn erfahren.

Leicht verständliche Darstellung des Sterbeprozesses
Das Buch „Über das Sterben“ ist auch für medizinische Laien leicht verständlich. Es zeigt medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zum Tod auf. Das Buch umfasst aktuelle medizinische Therapien zur Symptom-Linderung sowie psychosoziale und spirituelle Aspekte. Die Lektüre des Buches ist geeignet, das gesellschaftliche Tabu Tod zu durchbrechen und irrationale Ängste vor dem (eigenen) Tod zu vermindern.

Fazit
Die ärztliche Sterbebegleitung ist eine herausfordernde, jedoch auch erfüllende Aufgabe im Sinne des „Heilen manchmal, lindern oft, trösten immer.“

Dr. med. Helen Hochreutener, Interlaken

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