09.05.2019 10:06

Im Gespräch mit Prof. DDr. Alfried Längle

«Der Sinn der Grenze ist die Ermöglichung – ohne Grenze gäbe es nichts.»

Grenzen sind konstitutiv für alles Sein und begründen sozusagen unsere Existenz. Und doch ist es nicht leicht mit Grenzen zu leben, weil Grenzen widersprüchlich sind: Auf der einen Seite ermöglichen sie etwas, aber gleichzeitig begrenzen sie,  und das wird oft als Verlust er lebt. Eine zentrale Hilfestellung für Menschen, die am Begrenzenden leiden, besteht darin, wenn ihr Blick auf die Inhalte gelenkt wird und nicht auf die Grenze, die den Inhalt umgibt oder abschneidet. Mit diesem Umlenken des Blicks kann ein heilender Prozess einsetzen.

Ein Gespräch mit Prof. DDr. Alfried Längle, Arzt, Psychotherapeut, klinischer Psychologe, Gründungsmitglied der internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE) mit Sitz in Wien.

 

Grenzen gehören zum Leben. Welche Bedeutung haben Grenzen für die menschliche Existenz – haben Grenzen vielleicht sogar einen Sinn?

Grenzen sind etwas Grundlegendes. Sie sind ein Grundprinzip des Seins, denn alles Sein ist an Grenzen gebunden. Wir können sagen: ohne Grenzen gäbe es nichts. Es gäbe keine Materie, weil Materie nur in Verbindung von kleinen Teilchen existiert, das jedes für sich in Wechselwirkung mit anderen Teilchen besteht. Es gebe kein Leben, denn Leben braucht die Grenze der Membran um die Zelle, sonst kann sich kein Leben entwickeln. Es gäbe keine Gesellschaft und keine Gemeinschaft, denn nur durch einzelne Individuen kann sich eine Familie gründen oder sich ein Staat entwickeln. Ohne Differenzen gäbe es keinen Dialog, kein Miteinander. Grenze ist ein allgegenwärtiges Thema im Leben und im Dasein überhaupt, denn Grenzen sind konstitutiv für alles Sein, für das Leben und auch für das menschliche Sein. Deshalb kommt ihnen ein besonders grosser Stellenwert zu; sie begründen sozusagen unsere Existenz.


Grenzen akzeptieren ist für viele Menschen keine einfache Aufgabe. Was sind die psychologischen Probleme von Grenzen?

Obwohl Grenzen einerseits das Sein, das Leben, das Menschsein ermöglichen und dafür eine Voraussetzung sind, stellen sie für uns trotzdem auch immer wieder ein Problem dar: Grenzen an Kraft, an Zeit, an Ressourcen, an Leben, Begrenzungen in den Fähigkeiten des Miteinanders, im Umgang mit der Welt, überall stossen wir an Grenzen. Die ganz grosse Grenze, vor der viele Menschen Angst haben, ist die Grenze des Lebens, der Tod.

Grenzen sind schwierig. Das hat mehrere Gründe. Sie sind so vielfältig, und man entkommt ihnen nicht, sie kommen überall vor und überall limitieren sie auch. Ausserdem sind Grenzen abstrakt. Bei genauerem Hinsehen gibt es die Grenze eigentlich gar nicht. Grenzen für sich alleine haben keine Existenz. Sie sind nur Oberflächen. Sie brauchen eine Substanz als Träger. Grenzen umschliessen also immer Inhalte. Genaugenommen sind Grenzen eigentlich Übergänge. Da, wo das eine endet, beginnt das andere. Da, wo die Stuhlkante ist, beginnt die Luft. Da, wo die Kraft zum Ende kommt, beginnt der Schlaf. Da, wo das Geld ausgeht, beginnt die Heimreise. Nach einer Grenze kommt immer etwas - aber es ist immer etwas anderes.

Im persönlichen Leben ist Grenze immer Abgrenzung des Eigenen vom Anderen und stellt damit einen Übergang dar, eine Brücke in der Form einer Trennlinie. So gesehen sind Grenzen in sich auch widersprüchlich. Grenzen ermöglichen einerseits das Selbstsein und gleichzeitig verhindern sie eine bloße Fortführung. Sie verhindern ein Wachstum ins Unendliche, sie verhindern ein längeres Beisammensein, wenn die Zeit vorüber ist.

Grenzen sind in ihrer Widersprüchlichkeit ein Gewinn und ein Verlust, denn mit der Grenze ist immer auch ein Verzicht, ein Abschied, ein kleiner Tod verbunden. Das macht es psychologisch besonders schwer. Grenzen können auch Leid verursachen, wenn man in zu engen Grenzen aufwachsen muss, wenn in der Beziehung die Grenzen zu eng sind, wenn man sich verabschieden muss, wenn ein Verlust eintritt oder wenn eine Trennung stattfindet. Solche Grenzziehungen können sehr schmerzlich sein, weil sie etwas Bestehendes zu Ende führen. Man kann auch einen Schmerz erleben mit Grenzen, die man sich selber setzt oder die man bei sich oder bei anderen übergeht. Und schliesslich kann man Grenzen auch schmerzlich erleben in Form von Scheitern, wenn zum Beispiel das Zusammenleben in der Familie oder in einer Partnerschaft nicht mehr gelingt.

Zusammengefasst ist es nicht leicht, die Grenze zu sehen, weil es sie eigentlich nicht gibt, denn die Grenze ist nur ein Phasenübergang, der das eine vom anderen separiert.

Und das Leben mit Grenzen enthält immer diese beiden Seiten, enthält einen inneren Widerspruch. Denn auf der einen Seite ermöglichen sie etwas - ich nehme mir zum Beispiel die Zeit für das, was ich tun möchte und Grenze mich damit von anderen Möglichkeiten ab. Aber gleichzeitig ist es auch ein Verlust und es verhindert anderes, von dem ich mich vielleicht nicht so leicht trennen mag. Es ist eine grosse Leistung der Entwicklung und des Reifens, mit Grenzen leben zu können. Kinder zum Beispiel tun sich sehr schwer und schlagen sich die Köpfe wund am Akzeptieren der Grenzen. Deshalb besteht Erziehung in weiten Bereichen im Vermittelnvon Leben mit Grenzen, wo auch ihr Wert gesehen wird.


Wie kann man Menschen, die an Grenzen leiden, unterstützen? Was ist für hilfreich in der Begleitung?

Ein wichtiger Punkt in der Unterstützung ist, dass Menschen lernen, den Blick auf das Wesentliche zu richten. Wenn wir vorher sagten, dass es Grenzen eigentlich gar nicht gibt, dass es nur die Inhalte gibt, die von Grenzen umschlossen werden, dass Grenzen also nur die Oberfläche darstellen, sozusagen die Haut um den Körper, dann wird deutlich, dass das Wesentliche der Grenze dasjenige ist, was sie umschliesst. Eine zentrale Hilfestellung für Menschen besteht also darin, wenn ihr Blick auf die Inhalte gelenkt wird und nicht auf die Grenze, die den Inhalt umgibt, abschneidet oder begrenzt. Menschen sollen lernen das Bild zu sehen und nicht den Rahmen, der das Bild umgibt. Mit diesem Umlenken des Blicks kann nun ein heilender Prozess einsetzen, der darin besteht, dass Menschen lernen anzunehmen, auszuhalten, zu trauern und zu bereuen, zu verzeihen. In alldem ist ein psychologischer Prozess des Annehmens von Grenzen enthalten.

Wenn wir von annehmen und aushalten sprechen, so geht es bei beiden darum, besser dasein zu können. Konkret bedeutet das Annehmen der Grenzen: lass deine Wirkkraft sein, lass die Dinge sein. und das Aushalten der Grenze bedeutet: schau auf die Kraft, die du noch hast, um es weiter tragen zu können. Deine Aufgabe ist nicht, dass du ein Herkules bist, deine Aufgabe ist nur, es so lange zu tragen wie du kannst. Wenn du nicht mehr kannst, dann übernimmt das Sein die weitere Führung.

Im Trauern geht es um die Akzeptanz der Grenze oder des Verlustes und das wieder neu Leben-lernen mit dem Verlust. schließlich ist Bereuen die Akzeptanz eines Fehlers, den ich gemacht habe, und im Verzeihen das Lassen des Anderen trotz des Fehlers, den er mir gegenüber gemacht hat.

Menschliches Leben ist immer ein Leben mit Bedingungen. Es gäbe kein Ort, keine Gemeinschaft, keine Individualität, keinen Horizont des Lebens, wenn wir uns nicht innerhalb von Grenzen befänden und auch als Begrenzte verstehen würden. Wir können noch weitere Werte von Grenzen anführen: Grenzen ordnen. Das gibt dem Leben Stabilität und Ruhe, was ermöglicht, dass ich selbst auch besser sein kann. Grenzen vermitteln Zusammenhalt, denn wenn sich der einzelne Mensch vom anderen abgrenzt in der Beziehung, ermöglicht das ein Begegnen, ein Zusammen-Kommen. Grenzen unterstreichen die Unterschiedlichkeit, aus der heraus wir Vielfalt erleben und Gemeinsamkeiten bilden können. Durch Grenzen entstehen auch Polaritäten. Polaritäten bilden Potenziale aus, sie ermöglichen vieles. Ein Stausee zum Beispiel steht in einer Höhendifferenz zum Tal und durch diesen Unterschied können Wasser fliessen und wir können Strom erzeugen. Polaritäten ermöglichen das Wechselspiel, den Dialog. In der Grenze liegt das Potenzial der Ermöglichung. Das ist die zentrale Botschaft in einem existenziellen Verständnis. Grenzen haben den Sinn, etwas möglich zu machen, indem es das eigene Sein oder das Sein des jeweiligen Objekts begründet.

An Grenzen kann man wachsen. Was ermöglichen Grenzen nun konkret und wie kann man trotz Grenzen in Freiheit leben?

Der Sinn der Grenze ist die Ermöglichung haben wir gesagt. Betrachten wir Existenz in ihren unterschiedlichen Dimensionen*, können wir noch auch eine spezielle Struktur und eine spezielle Auswirkung der Grenzen beobachten.

Wenn wir die erste Dimension, das Sein-könnens in der Welt, also die ontologische Ebene betrachten, ist es wichtig, dass wir einen Schutz haben. Ohne Schutz laufen wir Gefahr, nicht sein zu können. Dieser Schutz ist wie eine Hauswand, eine Grenze nach aussen hin. Schutz kann nur das geben, was in sich selbst steht und damit auch einen Raum eröffnet, indem anderes ferngehalten wird. Schutz kann somit verstanden werden als eine positive Auswirkung von Grenzen: Nur durch Abgrenzungen kann Schutz entstehen. Das führt dazu – und darin liegt die unmittelbare Ermöglichung –, dass durch den Schutz nun ein geschützter Raum entsteht, ein Wohnraum, in dem ich mich aufhalten kann – physisch, psychisch, geistig. Und dies gibt letztlich gesehen eine Tiefe: Wenn ich mich geschützt in einem Raum aufhalten kann, erfahre ich dabei auch ein Gehalten-sein, dem ich vertrauen kann.

In der zweiten Dimension der Existenz, dem Lebensbezug, ist Beziehung dasjenige, was eine Grenze darstellt. In der Beziehung zu einem Menschen werden die Kontakte zu anderen Menschen abgegrenzt oder ausgegrenzt, zumindest für diesen Zeitpunkt. Beziehung ist also immer auch eine Grenzziehung. Wenn ich mich nun auf einen Menschen einlasse und anderes auszugrenzen, dann habe ich als Gewinn Zeit für diesen Menschen. In der Tiefe entsteht dadurch mehr Nähe.

In der dritten Dimension, des Sich-selbst-Seins, des Personsein-Könnens, ist es wichtig, dass wir Beachtung erhalten und uns auch selbst Beachtung schenken. In der Beachtung ist eine Abgrenzung von anderen enthalten. Abgrenzung bedeutet, das ist das Meine und jenes ist das Deine. Man beachtet das Eigene, indem man sich oder den anderen nicht blind übergeht, sondern ihn wahrnimmt, ihn sein lässt und dass ich mich selbst beachte, indem ich mich sein lasse. Und das ermöglicht nun, dass ich besser erkennen kann, wer ich bin und mir dadurch auch besser gerecht werden kann. Und umgekehrt: Wenn ich den anderen sein lassen kann, kann ich dem anderen gerecht werden. in der Tiefe ergibt sich dadurch mehr Wertschätzung für sich und/oder den anderen .

In der vierten Dimension der Existenz, dem Sinnhorizont, in dem wir stehen (die Familie, der Arbeitsplatz, der Staat) ist der Kontext eine Grenze. Wir bewegen uns in unserer Familie und nicht in einer anderen Familie. Wir können immer nur in einer Familie sein. Diese Grenze braucht es, um etwas zu ermöglichen. Wenn ich diese Grenze respektiere, kann ich im Rahmen dieses Kontext mein Tätigkeitsfeld ausfindig machen und darin fruchtbar werden. Und das gibt in der Tiefe letztlich einen Wert, der für die Zukunft steht, der in die Zukunft weist, ein kreativer Wert, etwas, das dadurch werden und entstehen kann.

Ohne Grenze daher keine Entwicklung, denn Grenzen, wie wir gesehen haben, sind spezifische Ermöglichungen der Existenz. Sie geben den Raum der Existenz, dass sich in ihr von selbst auch Dinge auftun und erschliessen können. Damit ist man zwar noch nicht ganz im Paradies, aber es ist das Leben mit Grenzen ein Leben mit Entlastung. Wir sind erst wirklich frei, wenn die Grenze in einem Lassen aufgenommen wird. Das Lassen-können macht uns letztlich frei.

* mehr dazu in: Längle A (2016) Existenzanalyse - Existentielle Zugänge in der Psychotherapie. Wien: Facultas.

Das Gespräch führte Dorothee Bürgi, PhD

 

Tagung Medizin und Spiritualität
An Grenzen wachsen? Grenzen als spirituelle Herausforderung für Heil und Heilung
25. Juni 2019, 9 - 17 Uhr
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