07.07.2021 12:01
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Hinausgeführt ins Weite

Beitrag von Erzbischof Dr. Martin Krebs

Wenn ich in diesem Gedenkjahr zur Bekehrung des Hl. Ignatius vor 500 Jahren an ihn denke und auch an die Jesuiten, die mir sein Leben und Wirken erschlossen haben, dann fällt mir unmittelbar die Anweisung ein, die er in seiner „Betrachtung, um Liebe zu erlangen“ gibt. Kenner wissen, dass er sie in der vierten Woche seines Exerzitienbuchs gibt, wo es heißt: „Erwägen, wie Gott sich in allen geschaffenen Dingen auf dem Angesicht der Erde für mich müht und arbeitet, das heißt, sich in der Weise eines Arbeitenden verhält“ (EB 236). Die Wucht dieses Gedankens lässt mich nicht los. Er ist vielleicht nicht exklusiv jesuitisch, aber seine Formulierung und seine Anordnung im Kontext einer ignatianischen Gebetsübung verleiht ihm außerordentliche Wirkung. Die Anweisung bringt die Übenden in einen Prozess der Reifung, hin zu konkreter und tätiger Liebe. Darin führt sie Gott selbst „hinaus ins Weite“ (Ps 18,20), fort aus jeder Enge, in gelebte Geschwisterlichkeit.

Ich nehme an, dass Ignatius mit seiner Anweisung die Erzählung aus dem Johannes-Evangelium erschlossen hat, in der Jesus am Teich von Bethesda einem Kranken die Gesundheit wiederschenkt. Den verständnislosen und engherzigen Religionsführern seiner Zeit hält Jesus in der Szene entgegen: „Mein Vater ist noch immer am Werk, und auch ich bin am Werk” (Joh 5,17). Diese biblische Aussage erhält bei Ignatius durch ihre meditierende Aneignung große Intensität. Der Exerzitant und die Exerzitantin verstehen, dass der Vater nicht „irgendwie“ und anonym wirkt, sondern eben jetzt, und zwar mühevoll tätig ist, indem er ihm und ihr wie allen “geschaffenen Dingen“ und Lebewesen das Dasein und die ihnen spezifischen Fähigkeiten schenkt. Mit Ignatius begreifen die Übenden, dass Jesus nicht nur vor langer Zeit einmal, weit weg von uns, gewirkt hat, sondern dass er sich heute, und zwar mit persönlichem Einsatz, darum müht, uns Erlösung zu bringen. Gott wirkt konkret, und zwar „für mich“, er nimmt mich als Person radikal ernst. Wem diese Erfahrung geschenkt worden ist, der kann darauf nicht reagieren nach der Logik eines Handelsabkommens oder eines anderen Rechtsgeschäfts. Der Mensch tritt vielmehr in die Logik der Liebe ein, der jeder auch noch so subtile Zwang fremd ist. In dieser Logik handelt er, wenn er sich nach der Betrachtung von Gottes Großherzigkeit auf sich selbst zurückbesinnt, indem er „mit viel Recht und Gerechtigkeit“ erwägt, was er von seiner Seite „seiner göttlichen Majestät anbieten und geben muss“ (EB 234).

Im Evangelium ist der Beschenkte ein Kranker am Bethesda-Teich, der von seiner Hoffnungslosigkeit und Lethargie befreit und zum Gehen befähigt wird. Heute aber können alle geistlich Übenden sich derart beschenken lassen. Wer mit Ignatius Gottes Taten meditiert, kann aus Fatalismus und Teilnahmslosigkeit heraus aufbrechen in die Weite eines sinnvollen Lebens der Hingabe. Selbst wer in anonymer Verlorenheit in der Masse oder auch in einer ganz konkreten Abhängigkeit gelebt hat, darf ein neues Leben beginnen!

Ich hatte das große Glück, dass Ausbilder aus dem Jesuitenorden mir die Aussicht auf ein solches Leben und dazu noch einen „Grundwortschatz ignatianischer Spiritualität“ vermittelt haben. Als Schüler des Hl. Ignatius mühten sie sich in der Nachfolge Jesu um ein Leben „in Sehnsucht, Ehrlichkeit und Vertrauen“, wie einer von ihnen einmal formuliert hat. Kann man die Frucht der Exerzitien des Ignatius besser zusammenfassen als in einem Programm mit diesen drei Pfeilern? Ein anderer Jesuit führte sein Leben „in der Nüchternheit einer großen Freundschaft“ mit dem Herrn, wie er es nannte. Niemals propagierte er eine „Wohlfühlreligion“, denn in der „Betrachtung, um Liebe zu erlangen“ ist nicht die Befindlichkeit der Übenden der letzte Zweck, sondern es geht um diejenigen, denen sie schließlich ihre Liebe weiterschenken. Die ganze Übung ermahnt ja zur Konkretheit, denn sie beginnt mit der Bemerkung: „Die Liebe muss mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden“ (EB 230).

Papst Franziskus, der als Jesuit selbst aus dem Geist der Exerzitien lebt, hat im vergangenen Jahr in einem Brief an die päpstlichen Missionswerke die Aufgabe kirchlicher Verantwortlicher einmal so beschrieben: "Blickt nach draußen, blickt nicht in den Spiegel. Zerbrecht alle Spiegel im Haus" (Botschaft vom 21. Mai 2020). Für die geistlich Übenden ist klar, was gemeint ist. Ihr Blick ist nicht ständig auf sich selbst gerichtet, sondern sie lassen sich hinausführen in die Weite: zu Gott hin, im geschwisterlichen Dienst an den anderen. Auch mein Amt als Apostolischer Nuntius stellt eine solche Sendung dar, im Dienst an der Einheit, hinaus an die Ränder der Welt, in die geografischen wie auch die existenziellen Grenzregionen, als Antwort auf Gottes Zuwendung. In diesem „Ignatianischen Jahr“ bin ich dankbar dafür, dass mich die Begegnung mit Ignatius und mit „den Seinen“ auf diesen Weg in die Weite geführt hat.

Erzbischof Dr. Martin Krebs, Apostolischer Nuntius in der Schweiz und in Liechtenstein

 

Weitere Impulse im Rahmen des Ignatianischen Jahres 2021/2022


Bild: Ottheinrich-Bibel, Bd. 3: Lk 5,26 - Joh 5,18. Illustration zu Joh 5,1-18 durch Matthias Gerung, ca. 1530.
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Portrait: Federico Gutierrez

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