30.07.2020 09:59
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Impuls von Pascal Meyer SJ

Die «frühere Normalität» hat ausgedient: Partizipation ist gefragt

Pascal Meyer SJ arbeitet beim internationalen Bildungsprojekt «Jesuit Worldwide Learning – Higher Education at the Margins» in Genf und reist als internationaler Hochschulseelsorger regelmässig zu Flüchtlingen und ausgegrenzten Menschen in Ostafrika, Zentralasien und dem Nahen Osten.

Viele Menschen sehnen sich nach der mehrmonatigen Quarantänezeit nach der «alten Normalität». Dieser Wunsch nach Ordnung ist wohl ein menschliches Bedürfnis. Aber wie war das genau mit der «Normalität»? Gerade der Corona-Ausbruch in Schlacht- und Erntebetrieben hier in Europa hat uns verdeutlicht, dass die «frühere Normalität» unserer Gesellschaft mit reichlich «Abnormalität» durchsetzt war: unmenschliche Arbeits- und Lebensbedingungen, organisierter Raubbau und Verpestung in der Natur, Gleichgültigkeit gegenüber Katastrophen, sofern sie genug weit weg von den eigenen vier Wänden stattfanden. Diese frühere «Normalität» lebte davon, dass gewisse Dynamiken in der Welt vielleicht hinterfragt, aber im Endeffekt unangetastet blieben. Die Mehrheit unserer Gesellschaft profitiert letztlich von dieser «Normalität»: heiligt der Zweck also die Mittel? Und: wie lange kann diese zynische Rechnung noch aufgehen?

Die Betroffenen haben keine Stimme
Ein Hauptproblem bei den Diskursen über die Schattenseiten der «alten Normalität» ist die fehlende Teilnahme derjenigen Personen, die am meisten unter diesen weltweiten Ungerechtigkeiten leiden. Selten hören wir die Stimmen ausgebeuteter Arbeiterinnen und Arbeiter, die Bitten von hungernden Kindern in Krisengebieten, die klappernden Zähne frierender Jugendlichen im Winter in europäischen Flüchtlingscamps oder die Tränen der Tausenden von Menschen, die täglich von Menschenhändlerringen verkauft werden. Wer sich die «alte Normalität» zurücksehnt, blendet entweder diese Ungerechtigkeiten oder sein Gewissen aus. Beides ist kein christlicher Zugang.

Räume der Begegnung und des Austauschs
Klar: Die erwähnten Ungerechtigkeiten in der Welt sind fest mit komplexen, globalen Herausforderungen verknüpft. Diese berühren die unterschiedlichsten Lebensbereiche wie Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Technik, Forschung, Umwelt, Kultur. Dafür sowohl soziale, ökologisch und ökonomisch funktionierende Lösungen zu finden erfordert möglichst breitangelegte Diskurse, Ideenaustausch, Forschung. Die digitale Kommunikation in unserer globalisierten und mehrheitlich digital vernetzten Welt könnte hier eine mögliche Antwort sein, um Räume der Begegnung und des Austausches zu schaffen. Allerdings sind noch immer viele Menschen allein aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihres Berufs, ihres Glaubens, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Aufenthaltsstatus von diesen Diskursen von vornherein ausgeschlossen. Nicht zuletzt, weil keine Zugänge zur digitalen Welt oder eine ausreichende Weiterbildung existieren in ihrer Heimat.

Wissen vermitteln, Gemeinschaften bilden
Jesuit Worldwide Learning – ein Bildungswerk der Zentraleuropäischen Jesuitenprovinz, das sich an Menschen in Flüchtlingscamps und Krisenregionen wendet (www.jwl.org) – versucht durch den Bachelorstudiengang in Sustainable Development (nachhaltige Entwicklung) einen zweifachen Beitrag für diese Herausforderung zu leisten:

1. Den Betroffenen der globalen Krisen das fachtechnische Werkzeug geben durch eine mehrjährige Wissensvermittlung
2. Eine internationale Gemeinschaft von lernenden und kritisch denkenden Frauen und Männern unterschiedlichster Herkunft, Religion oder Weltanschauung schaffen.

Das Schicksal selber in die Hand nehmen
Partizipation – Teilnahme – ist dabei der Schlüssel: Menschen sollen Zugänge erhalten, um ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Es geht darum, Abhängigkeiten zu überwinden sowie lokale Lösungen zu finden um diese umzusetzen. Bildung und Teilnahme an Diskursen sind nicht die Lösung der Probleme, verweisen aber auf einen Ausweg aus der «früheren Normalität». Und doch frage ich mich: Werden wir hier in Europa den Mut haben, auf ihre Wortmeldungen, Vorschläge und Lösungsansätze zu hören? Haben wir die innere Offenheit,  auch kritische Feststellungen über den westlichen Umgang mit Despoten, Regimen und Grosskonzernen anzuhören? Haben wir wirklich das Interesse, die «alte Normalität» infrage zu stellen?
Pascal Meyer SJ

 

 

 

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