08.11.2012 22:26

Tagebuch einer Reise in die Stille

Nebel

Ich bin angekommen. Zu einer Woche Heilfasten mit Zen-Mediationen im Lassalle-Haus, zum ersten Mal: Die Sonne durchbricht gegen Abend den Hochnebel, taucht den Herbst in warme, klare Farben. Ein letztes Mal für die nächsten Tage, wie sich zeigen wird. Meine Erwartungen sind hoch: am besten alle akuten Probleme lösen, einen roten Faden finden, idealerweise eine neue Idee für mein seicht dahin dümpelndes Alltagsleben. Und vor allem der Wunsch, mich innerlich zu reinigen, zu klären. Ich will meine Kraftquellen freilegen, neuen Antriebswillen fassen, ein Ziel, auf das ich zugehen kann.
Manches ist mir fremd hier, vor allem die Menschen, einige ganz in sich versunken, andere mit hellwachen Augen. Fast 30 Personen sieben Tage lang um mich herum – wie soll ich da zur Ruhe finden, zu mir? Gott sei Dank haben wir uns zum Schweigen verpflichtet. Nur über Blicke, ein Lächeln oder kleine Gesten können wir uns begegnen. Das entspannt und weckt Neugier. Kann ich so gemeinsam und zugleich all-ein sein? Zu mir finden in der Stille? Unser Kursleiter Marcel Steiner vergleicht das Fasten und Meditieren mit dem Häuten eines Drachens, das am Ende einen Prinzen freilegt. Wer weiss, wer oder was da bei mir zum Vorschein kommen wird?

Vom Häuten des Drachens
Der erste Fastenmorgen: Draussen Nebel überall, Dunkel und eine gespannte Stille – früh um zwei Uhr bin ich aufgewacht, unruhig wieder eingeschlafen mit wirren Träumen bis um Halbsieben. Nach dem ersten Einlauf fühle ich mich entleert und leicht. Es treibt mich hinaus, die steifen Glieder bewegen. Nur wenige Schritte hinauf durch Wiesen und verstreute Bäume, meist sind sie blattlos schon. Die Blätter wie einzeln gelegt, sorgfältig im Kreis um den Stamm. An einem Baum mit tiefroten Äpfeln lehnt noch eine Leiter im dämmer-lichten Nebel.
Ich kehre um, komme zu spät zum Morgentee, in die schweigende Runde. Höre nur das Klappern der Teegläser. Viele Gesichter in sich gekehrt, sie weichen meinem Blick aus. Einer lutscht an seinem Zitronenstück, ohne die Miene zu verziehen. Sauer macht lustig, grinse ich still in mich hinein. Es folgt ein kleines Ritual. Johanna schlägt das Holz, wir räumen die Tassen zusammen, stellen uns still hinter den Stuhl. Ein helles Klingen beendet das Innehalten, wir verbeugen uns und verlassen den Saal.

Irgendwo kneift es immer ...
Nur wenig später geht es weiter in den Zendo – einen leeren Raum mit Matten ausgelegt, zur ersten Zen-Meditationsrunde. Marcel weist uns ein, den Saal barfuss und achtsam zu betreten. Jeder sucht sich seinen Platz, wir sitzen auf Kissen, Bänken oder im Lotussitz, wer es denn kann. Wenden uns den Rücken zu, aufrecht in Reih und Glied. Dann ertönt die Klangschale, ab jetzt 25 Minuten still sitzen, keine Bewegung. Die Augen halb geöffnet, nur Atem sein. Den Kopf leeren, das fällt mir sehr schwer. Dann endlich nach einer gefühlten Ewigkeit ertönt die erlösende Klangschale.
Irgendwo kneift und zwickt es immer: Der Rücken tut weh, das rechte Knie schmerzt, im Bauch rumort es wild. Nach den Meditationen – fünf mal jeden Tag – habe ich Gelegenheit, im Gespräch mit Marcel meine Themen und Fragen vorzubringen. Meine Suche nach dem roten Faden, meine Schmerzen beim Meditieren. Marcel rät mir, das alles mit hinein zunehmen in die Meditation: „Werde selbst zur Frage, werde zum Schmerz. Spüre der Angst nach, lass sie zu. Höre auf die Stimme deines Herzens. Das alles ist Teil deiner Suche, es gehört zu dir.“

Abwasch im Hier und Jetzt
Später erzählt er einen Koan. Das sind uralte, meist rätselhafte Anekdoten von buddhistischen Zen-Meistern. Ein Mönch-Novize fragt seinen Meister: Was kannst du mich lehren, um zur Erleuchtung zu kommen? Der fragt zurück: Hast du deinen Reisbrei schon gegessen? Er bejaht. Darauf der Meister: Dann wasche dein Reisgeschirr ab. Das war für den Mönch eine Erleuchtung.
So einfach ist das also? Ich ahne erst langsam nach Tagen, worum es hier gehen könnte: Bei sich ankommen, im eigenen Körper, spüren was ist. Ganz Atem werden, ein und aus. Schritt vor Schritt gehen, jeden Moment wahrnehmen. Kopf, Bauch und Herz öffnen, entschlacken von all dem Müll, der sich angesammelt hat. Wie das Fasten den Körper leert und reinigt, so leert uns das Meditieren den Kopf von all den Gedanken und Sorgen über gestern und morgen. Sich der Gegenwart öffnen, das ist schwer wie Reisgeschirr abwaschen.

Den Himmel mit den Füssen berühren
Dazu passt auch die Leibarbeit: Jeden Morgen nach dem Tee treffen wir uns, beginnen mit Bewegung und Tanz. Spannen und entspannen den ganzen Körper, strecken und dehnen unsere Finger, Arme und Beine, wie jeder kann. Auf den Atem achten, auf dem Rücken liegend die Beine strecken und mit den Füssen den Himmel berühren. Johanna leitet die Yoga-Übungen an, mit einer erfrischenden Freude und Begeisterung, die mich rührt. Ihre Leibarbeit ist eigentlich Herzensarbeit, wir senden ein liebendes Lächeln um die Welt. Danach kommen mir manchmal ganz unvermittelt die Tränen, ich lasse sie fliessen, still draussen, an einen dieser blattlosen Bäume gelehnt.
Nachmittags wandern wir schweigend in kleinen Gruppen durch den Nebel hinauf zum Gubelberg auf 900 Meter Höhe. Aus dem weissen Dunst tauchen Bäume und Almwiesen auf, hier und da eine Hofstelle, Kuhglocken läuten wie aus dem Nichts. Oben angekommen öffnet sich endlich der Nebel, wir können ein Stück Himmel sehen: blau und klar. Erst am vierten Tag lichtet sich der Nebel und ich kann mich orientieren, da ein Hof, der Weg, dort oben der Gipfel, ich staune: So nah liegt das alles beieinander! Sich dem Zen aussetzen ist wie Spazieren im Nebel, wer sagte das noch?

Worte, die satt machen – wie der erste Apfel
In den täglichen Andachten der Abendmesse höre wir Geschichten aus den Evangelien – von einem Lahmen, der aufsteht und geht, von Kleinbauern, die ihre anvertrauten Talente vermehren oder vergraben, von Heulen und Zähneklappern. Manches davon klingt rätselhaft wie die Koans am Morgen. Und doch sind all diese Worte, Geschichten und Gleichnis-Erzählungen Jesu für mich wie feste Nahrung mitten im Fasten. Ich verspüre keinen Hunger, werde satt davon.
Das Fastenbrechen am letzten Tag: Einen Apfel essen, dafür habe ich selten soviel Zeit und Aufmerksamkeit verwandt. Ich schmecke jedem Bissen nach. Hier in diesen Tagen hatte ich gehofft, einen roten Faden für mein Leben zu finden – und fand doch so viel mehr: Es ist alles schon da, das Reich Gottes ist mitten unter uns, hier und jetzt. Einfach in die Stille lauschen und der Stimme des eigenen Herzens trauen. Hinter jedem Nebel öffnet sich ein klarer Himmel. Ich komme wieder ...


Johannes Freudewald (52) lebt und arbeitet in Hamburg als freier Journalist und Texter. Im November 2011 besuchte er zum ersten Mal den  Schönbrunner Heilfastenkurs „Ich faste, also bin ich“ mit Pfarrer und Zen-Lehrer Marcel Steiner und Johanna Rütschi im Lassalle-Haus.

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