10.12.2013 16:47

Ein inspirierender Text für sinnliche Kontemplation heute

Die mystische Perle «Scala divini amoris»

Die erst seit kurzem zugängliche mystische Schrift «Scala divini amoris» (Treppe der göttlichen Liebe) ist ein einzigartiges Zeugnis christlicher Mystik. Kein anderes Werk räumt der sinnlichen Wahrnehmung eine derart zentrale Bedeutung für den spirituellen Weg ein. Die Scala ist uneingeschränkt sinnen- und leibfreundlich. Zu dem originellen Stufenweg, der uns hier entgegenkommt, gibt es keine direkten Parallelen in der mystischen Literatur des Christentums. Auch sprachlich ist das franziskanisch geprägte Werk einzigartig. Es verbindet Poesie und spirituelle Anleitung auf neue Weise.

Aus dem 14. Jahrhundert – und wieder brandaktuell
Von einer Autorin oder einem Autoren aus dem Umfeld der Troubadours wurde es um 1300 auf Altprovenzalisch verfasst, einer Sprache, die seit Langem nicht mehr gesprochen wird und die mit dem Rätoromanischen verwandt ist. Als ich vor einigen Jahren in einer philologischen Fachzeitschrift auf die Übersetzung stiess, die der Schweizer Mystikforscher Kurt Ruh 1993 nach langjähriger Forschung veröffentlichte, hat mich der Zauber dieses Büchleins gepackt. Er ist übergegangen auf die Verantwortlichen des Kreuz-Verlags. So liegt der Text nun allen, die es möchten, zur inspirierenden Lektüre zur Verfügung. Er kommt zur rechten Zeit: Sind doch viele der spirituellen Suchbewegungen der Gegenwart von der Intuition geleitet, dass es für die Erneuerung christlicher Spiritualität einen neuen Sinn für die Sinnlichkeit und Leiblichkeit braucht.

Achtsamkeit und spirituelles Reifen
Die Scala nimmt diese Intuition vorweg und gibt ihr ein besonderes Gepräge. Sie präsentiert ihren Leserinnen und Lesern ein ungewöhnliches Modell spirituellen Reifens. Der von ihr beschriebene Weg kommt dem nahe, was heute als Achtsamkeit beschrieben und praktiziert wird. Achtsames Wahrnehmen führt den sich zerstreuenden Geist zur Ruhe. Es verankert uns im Hier und Jetzt. Es bringt uns von der mentalen Ebene in einen gefühlten Kontakt mit unserer sinnlich-leiblichen Selbstpräsenz – und in die Gegenwart der Wirklichkeit, die uns umfängt und durchdringt. Das entspricht dem Weg, den die Scala beschreibt. Er führt von Sinn zu Sinn, von Stufe zu Stufe, von Element zu Element, vom Herkömmlichen zum Ursprünglichen. Durch das elementar Sinnliche entbirgt sich ein Erleben von Einheit und Fülle. Die feinsinnige Systematik, mit der diese alte und doch so junge Schrift die Sinne skaliert und mit spiritueller Reifung in Verbindung bringt, lässt sich heute als spielerisches Wahrnehmungs- und Achtsamkeitsexperiment lesen. Es hat, so meine ich, in den Jahrhunderten, in denen die Scala in Vergessenheit ruhte, nichts an verlebendigender Kraft verloren. Die Kontemplationsangebote der via contemplativa, die wiederum eine Lektüregruppe umfasst, lassen sich im 2014 vom Zauber der Scala inspirieren.
Simon Peng-Keller

Simon Peng-Keller (Hrsg.), Scala divini amoris. Stufen zur Gottesliebe. Ein mystischer Weisheitstext aus der Provence, übersetzt von Kurt Ruh, Freiburg i. Br. 2013.

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